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Frau, Leben, Freiheit: Manifest der Iran-Solidaritätsbewegung in Österreich

Verabschiedet am 23.Oktober auf einer Konferenz der Iran-Solidaritätsbewegung in Wien mit über 60 Teilnehmer*innen


Frau, Leben, Freiheit

Es lebe die revolutionäre Bewegung im Iran:

Manifest der linken Solidaritätsbewegung in Österreich


Seit der brutalen Ermordung von Jina (Mahsa) Amini durch die sogenannte Sittenpolizei im Iran hat sich eine umfassende Bewegung im ganzen Land ausgebreitet, die eines der repressivsten Regime der Welt ins Wanken bringt. Es ist nicht übertrieben, von einer revolutionären Bewegung zu sprechen: Angeführt von Frauen, Studierenden, Jugendlichen. Szenen, wie Frauen und Männer gemeinsam den Hijab verbrennen, Schüler*innen, die todesmutig Repräsentanten des Regimes aus ihren Schulen werfen, Arbeiter*innen, die in Streik treten, Studierende, die täglich Versammlungen abhalten, haben uns alle zutiefst inspiriert.


Das Regime hat mit unerbittlicher Brutalität reagiert. Das Durchschnittsalter der Festgenommenen liegt bei 15 Jahren. Politische Gefangene waren beim Brand im berüchtigten Evin-Gefängnis in Lebensgefahr. Studierende “verschwinden” täglich. Schüler*innen werden aus ihren Klassenräumen gezerrt und verhaftet. Von Kurdistan bis Baluchestan hat das Regime Massaker verübt, die hunderte Opfer forderten und weitere Jinas zu Symbolen der Bewegungen gemacht haben. Von all dem lassen sich die Massen nicht abschrecken und noch weniger aufhalten. Diese Bewegung hat das Potential, nicht nur das iranische Regime zu Fall zu bringen, sondern sich auch in der gesamten Region auszuweiten. Das sehen wir auf beeindruckende Art in Afghanistan, wo es seit Monaten immer wieder Proteste von Frauen und Mädchen gegen die Taliban gibt. Die Bewegungen werden sich immer mehr gegenseitig inspirieren und so auch andere ermutigen.


Der Schlachtruf der kurdischen Befreiungsbewegung “Jin, Jiyan, Azadi” ist schon jetzt zu einem weitverbreiteten Schlachtruf geworden: von Irak bis Afghanistan, von Syrien bis zum Libanon geworden. Die weltweite Solidaritätsbewegung ist größer denn je: Von den USA bis Großbritannien, Deutschland, Kanada, Frankreich, Österreich - Menschen sehen diese Bewegung als Hoffnungsschimmer angesichts der umfassenden Krisen, dieses kapitalistischen Systems: Kriege, Wirtschaftskrisen, die globale Klimakrise und Angriffe auf unsere Rechte als Frauen & LGBTQI+ Personen.


Wir, Aktivist*innen der Solidaritätsproteste in Wien, verfassen dieses Manifest als einen politischen Aufruf zum Aufbau einer internationalen, linken, feministischen, antikapitalistischen Solidaritätsbewegung. Innerhalb der Solidaritätsbewegung und im Iran gibt es viele unterschiedliche Ideen und Ansätze. Es ist daher notwendig, innerhalb und außerhalb des Iran zu diskutieren, welches Programm und welche Perspektiven die Bewegung braucht, um echte Freiheit und Demokratie zu erkämpfen und zu garantieren. Dabei geht es darum, welches Programm und Methoden der Bewegung im Iran helfen können, aber auch, welche konkreten Forderungen wir außerhalb des Landes stellen um so tatsächlich Druck aufbauen zu können. Wir rufen alle, die unseren Ideen zustimmen, auf, sich uns anzuschließen und sich unter diesem Aufruf zu vereinen und zu organisieren.


Eine feministische Revolte: Das Herz der Bewegung


Diese Bewegung trifft das Regime an zentralen Säulen: Die Unterdrückung von Frauen & LGBTQI+ - Personen sowie die Diskriminierung von allen ethnischen, religiösen und nationalen Minderheiten. Der Kampf um Frauenrechte, demokratische Rechte, das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit steht im Zentrum einer Bewegung, die sich gegen das gesamte diktatorische, repressive Regime und System richtet. Die Hijab-Pflicht war eine der ersten Maßnahmen, die das Mullah-Regime eingeführt hat - Frauen haben von Anfang an dagegen protestiert. In Massen gingen sie am Internationalen Frauentag 1979 gegen die drohende Machtübernahme durch die Mullahs und die Beschneidung ihrer Rechte auf die Straßen.


Das Regime hat jahrzehntelang seine reaktionäre Ideologie benutzt , um Frauen und LGBTQI+-Personen und ihre Körper zu kontrollieren, sie in die Isolation der Familie zu drängen, sie brutal auszubeuten, die Bevölkerung zu spalten und seine Macht so zu stabilisieren. Diese Ideologie bröckelt seit langem, nun hat dieser Prozess eine neue Qualität erreicht. Eine ganze Generation wendet sich von den religiösen Institutionen radikal ab und duldet nicht länger den tief sitzenden Frauenhass, die Gewalt und die allgegenwärtige Unterdrückung.


Es geht um viel mehr als um die Abschaffung von frauenfeindlichen Kleidervorschriften: Es geht um gleiche Rechte, volle Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Zugang zu Arbeitsmarkt und Gesundheitsversorgung und ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben. Es geht um die Abschaffung aller Repressionen und der gewaltvollen Vollstrecker derselben, des Sicherheitsapparats: Von der Sittenpolizei bis zu den Revolutionsgarden. Von den korrupten Mullahs bis zu den gewalttätigen Polizist*innen.


In kaum einem anderen Land wird so deutlich, wie sehr die Unterdrückung von Frauen und LGBTQI+ Personen mit dem gesamten, kapitalistischen System zusammenhängt: Es sind die selben Mullahs, die die frauenfeindliche Ideologie predigen und für diese systematische Unterdrückung und Diskriminierung verantwortlich sind, die gleichzeitig die Kontrolle über die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft haben, die arme und arbeitende Bevölkerung bis ins Unermessliche ausbeuten und davon profitieren.


Die Rolle der Arbeiter*innenklasse


Diese Bewegung ist nicht vom Himmel gefallen. In den vergangenen Jahren hat sich die Wirtschaftskrise im Land massiv verschärft. Wir haben eine historische Streikwelle während der Pandemie von Öl-Arbeiter*innen, Busfahrer*innen, Lehrer*innen und vielen anderen erlebt. Der Kampf dieser Arbeiter*innen für sichere Jobs, für die Auszahlung ihrer Gehälter, für die Freilassung ihrer inhaftierten Kolleg*innen und vieles mehr deutet schon lange auf die Entstehung einer neuen, kämpferischen Arbeiter*innenbewegung im ganzen Land hin.


Heute erkennen die Studierenden und jungen Generationen, was es braucht: Einen Schulterschluss der Jugend- und Arbeiter*innenbewegung. Sie skandieren auf ihren Versammlungen “Studierende & Arbeiter*innen: Vereinigt euch und streikt!”. Lehrer*innen haben früh begonnen, in Streik zu treten, Beschäftigte in der Öl- und petrochemischen Industrie sind gefolgt. Das ist der entscheidende Weg zur erfolgreichen Revolution: Es geht um die gesamte Macht - die politische wie die wirtschaftliche. Es ist die Arbeiter*innenklasse die die Kraft hat durch umfassende Generalstreiks, das System der Mullahs zum Stillstand zu bringen und ihnen Reichtum und Ressourcen zu entreißen. Diejenigen, die den Reichtum geschaffen haben, müssen ihn auch besitzen, um Hunger, Armut, Elend, Preisexplosionen, Korruption, Umweltverschmutzung und die Unterdrückung von Frauen, LGBTQI+ Personen und ethnischen Minderheiten endlich zu beenden.


Der Kampf um echte Demokratie


Wie können wir garantieren, dass demokratische Rechte, die Rechte von Frauen und LGBTQI+Personen, von nationalen Minderheiten, für gewerkschaftliche und politische Organisierung nachhaltig gesichert werden können? Was kommt nach den Mullahs? Das sind Fragen, die die revolutionäre Bewegung beantworten muss. Wir sehen schon jetzt, wie sich die Bewegung zunehmend koordiniert und organisiert. Das sind entscheidende Schritte.


Die Bewegung muss sich ausweiten, durch die Organisation von demokratischen Versammlungen an den Arbeitsplätzen, Schulen und Universitäten, um die konkreten Forderungen der Bewegung zu diskutieren und demokratische Vertreter*innen zu wählen, die die Proteste koordinieren. Dazu gehört auch die demokratische Organisierung einer multiethnischen Selbstverteidigung, um die Bewegung gegen die Angriffe des Staates zu schützen. Solche demokratischen Strukturen und Komitees in Betrieben, Bildungseinrichtungen und Nachbarschaften können auch genutzt werden, um die Verteilung von Lebensmitteln, Wasser und notwendigen Gütern zu garantieren und organisieren. Sie können damit beginnen, die Macht dort zu übernehmen, wo der Staat sich gezwungenermaßen zurückzieht, und die Grundlage für die demokratische Übernahme von Schlüsselindustrien und des Reichtums des Landes schaffen.


Nur so kann echte Demokratie sichergestellt werden. Beispiele aus dem arabischen Frühling und der Revolution 1979 zeigen, dass Demokratie langfristig nicht möglich ist, solange die Wirtschaft in den Händen einer kleinen Elite verbleibt - egal ob Mullahs, Schah-Anhänger oder westliche Kapitalist*innen. Die größte revolutionäre Einheit schaffen wir durch Klarheit darüber, wofür wir kämpfen. Es ist nicht egal, mit welchen Kräften wir zusammenarbeiten in diesem Kampf: Wir dürfen die Fehler von 1979, wo es die Idee gab, mit allen Kräften gemeinsam - auch den Mullahs - den Shah zu stürzen, nicht wiederholen. Das derzeitige Regime muss durch wirklich demokratische Strukturen ersetzt werden, die sich auf die in den Betrieben und Städten entstehenden Komitees stützen, die die demokratische und wirtschaftliche Macht übernehmen. Echte Demokratie auf jeder Ebene der Gesellschaft ist dringend notwendig: Eine Demokratie, die sich auf die Macht und die Stärke der einfachen Leute, der Arbeiter*innen, der Frauen, der Bäuer*innen und der Jugend stützt. Für den Aufbau eines solchen Systems braucht es die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die sich aus Arbeiter*innenräten in den Betrieben und allen demokratischen Kräften der Bewegung zusammensetzt, unter Ausschluss all derer, die in der Vergangenheit an Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung beteiligt waren.


Shah und Biden nicht vertrauen - Widerstand von unten bauen


Wir vertrauen in diesem Sinne und angesichts der reichen Traditionen der iranischen Arbeiter*innenbewegung, deren Revolution gegen die Monarchie 1979 von den Mullahs gestohlen wurde, auf die Kraft der Jugend und der Arbeiter*innenklasse im Iran, in der Region und weltweit, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Wir kennen die Rolle imperialistischer Mächte - ob USA, EU, China oder Russland - in der Region. Mit ihren Kriegen für Ressourcen und Einflusssphären haben sie die ganze Region in Chaos und Zerstörung gestürzt.


Sie haben islamistischen Kräften wie in Afghanistan zum Aufstieg verholfen, machen Geschäfte mit Diktaturen und reden trotzdem von Menschenrechten. Wir müssen jede imperialistische Einmischung speziell in dieser revolutionären Situation verhindern. Die enge Zusammenarbeit der alten Shah-Familie mit imperialistischen Mächten zeigt, dass sie durchaus versuchen, sich aufzustellen, um ein undemokratisches System mit einem anderen undemokratischen System zu ersetzen. Wir müssen die Brutalität des Shah-Regimes und seiner Folterstruktur SAVAK und die massive Ausbeutung der Bevölkerung im Iran immer wieder in Erinnerung rufen, wenn heute versucht wird, dieses als “modern” zu präsentieren.


Die von der EU beschlossenen Sanktionen sind im Endeffekt zahnlose Symbolpolitik. Erst nach wochenlangen Protesten wurde entschieden, sehr beschränkte Einreiseverbote zu erteilen und Vermögenswerte einzufrieren. Als Arbeiter*innenbewegung in Österreich müssen wir diese Vermögenswerte enteignen. Die bisher schon vorhandenen Sanktionen treffen in erster Linie die arme und arbeitende Bevölkerung. Wir stellen uns daher gegen alle Sanktionen gegen den Iran, die die iranischen Massen aushungern und vom Mullah Regime als Existenzberechtigung benutzt werden. Die Aufgabe, das Regime im Iran zu stürzen, können nur die Massen im Iran selbst lösen. Die Regierungen der imperialistischen Länder, besonders unsere „eigenen“, sind dabei unsere Feinde. Diese Mächte haben ihre eigenen politischen und ökonomischen Interessen, auch in Zusammenarbeit mit dem Regime, und wollen selbst die Arbeiter*innenklasse im Iran ausbeuten. Unsere Bündnispartner*innen sind nicht diese Damen und Herren, nicht diese Institutionen oder Regierungen. Es sind die Schüler*innen in Afghanistan, die Anti-Kriegs-Aktivist*innen in Russland, die Feminist*innen in Lateinamerika, die Arbeiter*innen in den USA und all jene, die sich gegen die Reichen und Mächtigen und ihr brutales Regime wehren.


Internationale Solidarität - Freiheit durch Sozialismus!

Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung hängt für uns deshalb mit ganz konkreten Forderungen zusammen, überall dort wo wir uns befinden. Sei es der Kampf um Bleiberecht für alle, für gleiche Rechte und die Abschaffung aller bürokratischen und finanziellen Hürden für Menschen, die aus dem Iran fliehen oder geflohen sind. Sei es der Kampf gegen die Botschaften und das Spionagenetzwerk des iranischen Regimes auf der ganzen Welt. Sei es der Kampf um die Beschlagnahmung aller Vermögenswerte des Regimes im Ausland durch die Solidaritätsbewegung genauso wie die der Profite von Konzernen, die Geschäfte mit der Diktatur gemacht haben oder machen.


Internationale Solidarität ist unsere Pflicht - genauso wie die der gesamten Arbeiter*innen-, Gewerkschafts-, Schüler*innen und Studierendenbewegung weltweit. Die Bewegung im Iran ist für uns ein Vorbild, weil wir überall gegen Unterdrückung und Ausbeutung kämpfen. Weil wir darauf vertrauen, dass eine Weltordnung und ein System, dass solche repressiven Regime hervorbringt, auf Sand gebaut ist. Und mit dieser Bewegung kommt der Tag näher, an dem wir als große Mehrheit der Bevölkerung ein sozialistisches System aufbauen werden, das weltweit nicht auf Profiten weniger, sondern auf den Bedürfnissen von Mensch und Natur basiert und echte Freiheit garantiert.


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